Sagen und Ortsgeschichten
aus „Die steinernen Blumen“ von Claus Stephani
RUTHRAUT – Die schlafende Jungfrau
In ältesten Zeiten, als die Karpaten noch von einem tiefen blauen Meer umspült wurden, lebten auf den Burzenländer Bergen Riesen. Ihr Herrscher
hieß Hartmann, seine Gemahlin Edeltraut, und ihr Schloss befand sich oben auf dem Königstein. Der Butschetsch, der Schuler, der Hohenstein, der Krähenstein und selbst die Fogarascher Bergspitzen
ragten wie kleine Inseln aus dem weiten Wasser hervor. Hartmann und Edeltraut hatten eine Tochter namens Ruthraut. Ein anderer Riesenherrscher, mit Namen Karlo, lebte auf dem Butschetsch, zusammen
mit seiner Gemahlin Enzine und ihren beiden Kindern Wacholder und Alpine. Die drei Riesenkinder waren gut befreundet, sie spielten gern zusammen am Meeresufer, badeten und schwammen an heißen
Sommertagen in den kühlen Fluten. So vergingen die Jahre und die Riesenkinder wurden groß, so groß wie eben erwachsene Riesen sind. Ruthraut war ein schönes junges Mädchen geworden, ihr langes
blondes Haar reichte fast bis auf den Boden, und wenn sie hinunter zum Meeresufer ging, sahen sich die Burschen nach ihr um. Ihre Schönheit und Anmut waren weithin bekannt. Davon hörte eines Tages
König Watzmann, der mit seinen sieben Söhnen oben in den Alpen wohnte. Und Salzach, der Jüngste, wollte nun um die Hand der schönen Ruthraut anhalten. Er schickte einen Boten hinunter ins Land am
Meer und kündigte seinen baldigen Besuch an. Herrscher Hartmann und seine Gemahlin Edeltraut waren darüber sehr erfreut, und sie ließen Salzach sagen, dass er bald kommen könne. In aller Eile
bereitete man sich für den hohen Besuch vor. Als nun Ruthraut hörte, dass sie bald Salzachs Frau werden sollte, war sie sehr traurig, denn sie liebte ihren Jugendfreund Wacholder, und die beiden
hatten im Stillen beschlossen, einmal zu heiraten.
Im Schloss am Königstein aber herrschte nun Hochbetrieb, die besten Köche des Riesenreiches waren mit der Zubereitung des Festmahls beschäftigt. Es wurden zehn Riesenochsen, fünfzig Riesenschafe und
fünfzig Riesenschweine geschlachtet, und man schaffte einige Fässer herbei, in denen wohl je tausend Liter Wein waren. Ruthraut ließ ihre Freundin Alpine rufen und sagte ihr: „Eile rasch zu
Wacholder, erzähle ihm, was geschehen ist, und wenn er mich wirklich liebt, so will ich heute Nacht mit ihm entfliehen, damit ich nicht die Frau eines anderen werde". Als Wacholder die Nachricht
erhielt, war er zuerst sehr erschrocken, doch dann freute er sich über Ruthrauts Entschluss. „Sage ihr", sprach er, „sie soll gleich nach Mitternacht vom Königstein den Weg rechts hinuntereilen, ich
werde ihr entgegenkommen, und dann wollen wir gemeinsam weiterziehen." Am nächsten Tag machte sich Salzach in aller Frühe auf den Weg. Er schwamm den Innfluss hinunter, erreichte die Donau und war
bald im siebenbürgischen Meer. Am Königstein wurde er mit trockenen und schönen Gewändern herzlich empfangen. Plötzlich merkte man aber, dass Ruthraut fehlte. Man suchte sie überall, auch bei ihren
Freunden am Butschetsch, doch da war nur Alpine und weinte um die liebe Freundin und den guten Bruder. Jetzt erst hörten die Eltern, was geschehen war. Hartmann wurde nun sehr zornig. Er ließ die
Hexe Xanthippe rufen, die in einer dunklen Grotte hauste und befahl ihr: „Fliege, Xanthippe, und hole Ruthraut und Wacholder sofort zurück!" Xanthippe erhob sich in die Luft (sie hatte riesige
Flügel, wie ein Drachen), und bald erblickte sie die beiden Fliehenden. „Wir wollen uns verbergen", sagte Ruthraut und legte sich ins hohe Wiesengras, während Wacholder sich hinter einem Strauch
verbarg. „Komm, Ruthraut, komm sofort zurück", rief die Hexe, denn sie hatte Wacholder noch nicht bemerkt, doch das Mädchen rührte sich nicht und tat so, als ob es schliefe. Da wurde die Hexe wütend
und rief mit schriller Stimme, dass es weithin hallte: „So schlafe, schlafe ewig, stolze Jungfrau!
Dein Liebster aber soll dich bewachen." Ein gewaltiges Donnern rollte durch die Luft, so dass selbst Hartmann und Salzach erschraken. Und damit
ging der Fluch in Erfüllung. Enzine und Alpine weinten viele Tränen, und wo sie hinfielen, erblühten später Alpenrosen, Edelweiß und Enzian. Wacholder aber blieb in tiefer Trauer sitzen und wurde
langsam zu Stein. Salzach zog in seine Heimat zurück — seine Tränen fließen auch heute noch durch den Salzachfluss in die Donau...
Die Riesen aber starben aus, und auch das Meer verschwand. Was jedoch an jene Zeiten erinnert, ist ein Bergrücken unterhalb des Schulers, den man — seiner merkwürdigen Form wegen — „Schlafende
Jungfrau" nennt. Gegenüber aber hockt und wacht immer noch der treue Freund Wacholder — der Zeidner Berg...